Hilfe für Menschen im ehemaligen Jugoslawien

1992 - Bericht von der Arbeit in einem Flüchtlingslager in Kroatien


von Bernd Rieche

Flüchtlingslager in Kroatien, was heißt es, dort leben zu müssen? Ich hatte keine Vorstellung, bis ich eines Tages einen Aufruf von der kroatischen Friedensgruppe "Suncokret" bekam, in dem um Freiwillige für Arbeiten in kroatischen Flüchtlingslagern gebeten wurde.

Ich entschloß mich nach Zagreb, der Hauptstadt Kroatiens gefahren und wußte nicht, was mich dort im einzelnen erwarten würde. Zagreb bot zunächst das friedliche Bild einer südländische Stadt. Abends treffen sich die Menschen auf den Straßen und Plätzen. Nichts deutet auf Krieg hin. Ab und zu ein paar Soldaten in Uniform, oft mit einem Mädchen Arm in Arm. Als ich einige Tage später nach Savudrija fuhr, änderte sich nichts an dem äußerlich friedlichen Eindruck. Savudrija ist ein kleines Dorf an der Küste der Adria, nahe der italienischen Grenze. Ein wunderschöner Ort, doch leider nicht für alle Menschen die dort leben. Auf einem der Zeltplätze befindet sich heute ein Flüchtlingslager. Auf den ersten Blick ist nichts von den Auswirkungen des Krieges zu sehen: Frauen waschen Wäsche vor ihren Zelten, Kinder spielen. Im Hintergrund ziehen die Wolken über das blaue Meer.

Beim näheren Hinsehen allerdings zeigten sich mir die Schrecken des Krieges. Ich bekam langsam eine Vorstellung davon, was Krieg bedeutet, ohne daß ich auch nur eine Schuß gehört hätte. Die Menschen die hier leben, hauptsächlich Frauen, Kinder und Alte, mußten ihre Heimat verlassen. Sie haben ihr gesamtes Hab und Gut zurückgelassen. Ihre Männer und Söhne kämpfen an der Front, leiden in Kriegsgefangenschaft oder sind gar tot. Viele der Frauen wurden vergewaltigt und mißhandelt, oft von ihren ehemaligen Nachbarn. Viele der Menschen hier sind psychisch schwer geschädigt. Es sind die unschuldigen Opfer des Krieges.

Die äußeren Bedingungen in den Flüchtlingslagern erschweren die Situation. Mehrere Familien leben in einem Zelt. Das Essen ist mengenmäßig ausreichend, aber es fehlen Obst, Gemüse und Milchprodukte. Alle paar Tage gibt es ein Tellerchen Tomatensalat für acht Personen. Dabei gehört dieses Lager noch zu den bestversorgten in Kroatien. Denn hier, nahe der italienischen Grenze kommen noch relativ viele der Hilfssendungen an. Es gibt andere Lager, zum Beispiel Resnik in Zagreb, wo 2000 Leute in 12 Baracken leben, sich 12 Toiletten teilen müssen, hungern und haben nicht mal eine Liege für sich. Ich war in Savudrija mit zehn anderen Freiwilligen aus ganz Europa. Unsere Aufgabe war es, für die Menschen da zu sein, das heißt neben praktischer Arbeit, wie Zeltaufbau, vor allem sich der Kinder annehmen. Die meisten Mütter sind angesichts ihrer eigenen Probleme nicht in der Lage sich intensiv um ihre Kinder zu kümmern. Diese bleiben somit sich selbst überlassen. Kaum einer beschäftigt sich mit ihnen. So halfen wir im Kindergarten, beim Aufbau der Schule und spielten mit den Jungs Fußball. Zwei notdürftig mit alten Matratzen eingerichtete Zelte waren die Behausung für die neu eingerichtete Schule. Die Kinder werden von Lehrern, die selbst Flüchtlinge sind und durch uns unterrichtet. Ich erlebte den ersten Tag richtiger Schule, mit Stundenplan und Zensuren. Noch nie hatte ich Kinder aller Klassen so freudig in die Schule gehen sehen! Sicherlich ist dies nur ein kleine, wichtiger Anfang, für die einzelnen Kinder das Leben wieder zu normalisieren.

Vor meiner Fahrt nach Kroatien war der Krieg für mich etwas weit entferntes. Die Zeitung mit ihren Berichten konnte man wieder weglegen, den Fernseher ausschalten. Jetzt wurden die Schrecken des Krieges auf einmal konkret, verbanden sich mit Personen. Da ist Vesna eine Mutter von zwei Kindern. Sie war oft bei uns. In der einen Woche hatte sie einen Anruf erhalten, daß ihre Angehörigen wohl auf seien. Eine Woche später kam die Schreckensnachricht, ihr Mann ist in serbischer Kriegsgefangenschaft, das heißt im Konzentrationslager. Keiner weiß, ob sie ihn je wieder gesund sehen wird. Oder der Schuldirektor unserer Schule, gerade aus serbischer Kriegsgefangenschaft geflohen, berichtet schreckliches aus eigenem Erleben: Folter, Hunger, Mißhandlung. Zusammengefercht in kleinen Räumen ohne Toilette mußte er mit anderen Gefangen ausharren. Die Nahrung war nur eine wässrige Suppe. Er zeigt uns die Narben seiner Folter. Die Menschen in den Lagern wollen wieder zurück in ihre Heimat. Täglich scharen sie sich um die Lagerlautsprecher, um die Nachrichten zu hören. Sie verdrängen, daß dieser Krieg noch lange dauern kann. Keiner möchte sich auf länger hier einrichten. So findet kaum eine Selbstorganisation der Flüchtlinge in den Lagern statt. Die vom kroatischen Staat zwangsverpflichteten Angestellten sind froh, wenn sie das allernötigste Organisieren können. Um die psychischen Probleme der Menschen kümmert sich bisher keiner. Was diese Menschen brauchen ist neben der materiellen Hilfe, wieder Hoffnung und Sinn für ihr Leben. Besonders betroffen sind die Kinder. Sie haben all das schreckliche miterlebt. Viele Zeichnungen der Kinder zeigen Bomben, Panzer, brennende Häuser. Sie bräuchten dringend psychologische Behandlung. Wam Kat, ein holländischer Freiwilliger von Suncokret, sagte: "Wenn die Kinder in den Flüchtlingslagern nicht heute Liebe erfahren und wieder Vertrauen in die Menschen lernen, werden sie die Soldaten von morgen sein." So kann die Arbeit von Suncokret nur ein Anfang sein, der Erfolg ist nicht meßbar, aber jedes Kinderlachen ist bereits Dank. Aber auch die älteren sind dankbar für Anteilnahme. Zusammen mit einer älteren Frau und einer Mutter von zwei Kindern saß ich am Essenstisch und versuchte mich, soweit es sprachlich ging mit ihr zu unterhalten. Ich fragte unter anderem, ob die Kinder ihre Enkel wären. Die Antwort waren Tränen. Ich konnte nichts weiter sagen, nur ihre Hand fest drücken. Auch wenn ich dort unter den gleichen Bedingungen lebte, war ich doch sehr privilegiert. Ich war nur eine kurze Zeit dort, und wußte immer, ich kann wieder nach Hause. Bei meiner Abfahrt nach Deutschland faßte ein kurzes Gespräch mit einem bosnischen Soldaten auf dem Busbahnhof die Eindrücke der Reise zusammen. Der Soldat zeiget mir seine Verletzung, deretwegen er fünfzehn Tage Sonderurlaub bekam. Sein Heimatdorf ist total zerstört. Er weiß nicht, wo seine Familie noch lebt. Er versteht den Sinn dieses Krieges nicht. Er erzählt mir, daß Deutschland sich vereinigt und größer wird, und das es ein reiches und gutes Land ist. Jugoslawien dagegen teilt sich und geht im Chaos unter. Inzwischen zieht dort der Winter ein. Tag zu Tag wird es kälter, die Menschen haben nichts warmes anzuziehen. Die Nahrung wird, besonders im Kriegsgebiet knapp. Es scheint schwer da noch helfen zu wollen, trotzdem ist jede Hilfe dringend nötig und hilft einzelnen weiter.

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